Julia ahnt schon lange, dass in ihr mehrere Persönlichkeiten wohnen.
Als ihre kleine Tochter Joana spurlos verschwindet, muss sie sich dieser Tatsache stellen.
Unterstützt von zwei Freundinnen tritt sie mit ihren verschiedenen Identitäten in Kontakt.
Sie muss sie als Verbündete gewinnen – sonst wird sie Joana niemals wiedersehen.
Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.
Die Suche nach Joana führt in ein kleines Dorf im Südwesten Frankreichs.
Werden die „anderen“ ihr helfen, Joana wieder wohlbehalten in die Arme nehmen zu können?
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LESEPROBE
Joana war still an Bernadettes Hand, als sie zum Haus strebten. Sonst plapperte die Kleine immer munter vor sich hin.
Oft riss sie sich los, um vorauszulaufen, oder sie hüpfte auf und ab, bis Bernadette sie zur Ordnung rief,
denn sie war nicht sicher auf den Beinen, hatte Angst, das Gleichgewicht zu verlieren.
Heute hielt Joana sich mit beiden Händen an ihr fest, als befürchtete die Kleine, zu stürzen.
An der Veranda löste sich die alte Frau sanft von ihrer Großnichte.
Mit beiden Händen hielt sie sich am Geländer fest, um die fünf Holzstufen zu überwinden.
Joana blieb an ihrer Seite und setzte tastend einen Fuß vor den anderen, als drohte die Treppe unter ihr nachzugeben.
Oben angekommen blieb Joana mit gesenktem Kopf stehen. Bernadette streichelte ihr übers Haar und drehte sich um.
Julia stand da, wo sie sie verlassen hatten.
Sie trug eine alte Strickjacke, die ihr bis zu den Knien reichte und in der sie sich zu verkriechen schien.
Einsam und verloren sah sie aus – Bernadette schluckte ihre Tränen hinunter.
Einsam und verloren, das wäre auch sie, ohne Julia und Joana.
Sie schüttelte den Kopf. Das durfte nicht passieren. Sie würde es nicht ertragen.
Betont munter sagte sie zu Joana: „So, chérie, wie wäre es, wenn du den Kakao beim Fernsehen trinkst?“
Joanas Miene hellte sich auf, sie rannte vor und öffnete die Verandatür. „Eine große Tasse, ja? Und ein paar Kekse? Bitte!“
Ihre Welt schien wieder in Ordnung. Bernadette seufzte.
Wie sehr wünschte sie sich diese kindliche Fähigkeit, Zuversicht durch die tröstende Wärme einer heißen Schokolade zu gewinnen.
Sie ging ebenfalls hinein, bereitete den Kakao zu und brachte ihn Joana mit einem Teller Butterkekse ins Wohnzimmer.
Die Kleine saß gebannt vor dem Fernseher und schaute Die kleinen Gespenster.
Zurück in der Küche wanderten ihre Gedanken wieder zu ihrer Nichte, die draußen mit ihren inneren Dämonen kämpfte.
Julias Welt war nicht mehr in Ordnung. Schon seit langer Zeit nicht mehr.
Bernadette hatte davor die Augen verschlossen. Hatte sich eingeredet, dass die Vergangenheit nicht zählte.
Dass mit Julias Rückkehr und vor allem mit Joanas Geburt eine neue Zeitrechnung galt.
So hatte sie schon wieder geschwiegen, genau wie damals.
„Tante Dette?“ Bernadette sah auf. Joana stand in der Tür, den Mund mit Kakao verschmiert.
Ihre Stimme zitterte, als sie fragte: „Haben die bösen Gespenster die liebe Mama entführt und eine böse Mama dagelassen?“
Als Bernadette nicht antwortete, lief Joana zu ihr.
Aufgeregt fuhr sie fort: „Weil nämlich, dann müssen wir die Gespenster einsperren!
Und dann müssen wir die liebe Mama finden und wieder zurückbringen.“
Bernadette rang um Worte. Sie zog Joana an sich und legte ihr die Hand an die Wange.
„Nein, ma chère, Mama ist nicht böse. Sie ist …“
Ja, was denn? Wie sollte sie dem Kind erklären, was sie selbst nicht verstand?
„Es wird alles wieder gut, glaub mir“, sagte sie ausweichend.
Der Zweifel in den Augen des unschuldigen Mädchens zerriss ihr das Herz,
aber sie fand keine Worte für das Entsetzen, das ihren ohnehin geschwächten Körper noch mehr lähmte,
so dass sie Sorge hatte, vollends den Halt zu verlieren.
Dabei musste sie nun doch für Joana stark sein! Für Joana – und auch für Julia, die sich so quälte.
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INFORMATIONEN ZUM BUCH
Dagmar Kramp
MEINE LIEBE TÖTET
ISBN: 978-3-903190-64-1
1. Auflage Mai 2024
Hardcover, Fadenheftung
412 Seiten, € 27,50
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